Endstation Sehn Sucht

In Wien gibt es Orte und Ecken, die nie ein Tourist zu sehen bekommt. Sie stehen auch in keinem Reiseführer, da sich die Stadt Wien dafür schämt

 

Zufällig wartete ich bei der U-Bahn-Station Gumpendorferstraße auf die Straßenbahn und sah eine Gruppe von Menschen, die auf nichts warteten. Sie waren einfach da und hatten nur ein Ziel: ein und Verkauf von rezeptpflichtigen Medikamenten. Ich beobachte das Treiben einige Zeit und wollte mehr erfahren.

Baumhaus

Manche hielten mich zuerst für einen Polizisten, der möglicherweise Undercover recherchierte. Doch mit der Zeit fassten einige Vertrauen und sprachen mit mir über die Vergangenheit, die Gegenwart und die schlechten Zukunftsaussichten. Da war ein junges Paar, sie 17, er 22 Jahre jung, die mir von ihrer Abhängigkeit von Opiaten und von ihrem verdammten Leben berichteten. Beide waren obdachlos und hausten in einem Baumhaus am Rande der Stadt, nur die Suchtlockte sie täglich vom Baum runter in die Peripherie des Grauens. Jede Art von Suchtmuss befriedigt werden und eine Morphiumtablette kostet am Schwarzmarkt ab 10 Euro. Viel Geld, wenn man nicht mit einem Pulverl am Tag auskommt. Die junge, hübsche Frau verdiente Kohle mit grindigen alten Männern, die ihr „Französisch“ schätzen. Sie hat mir versichert, dass sie diese “Fremdsprache” nur mit Gummi ausführte, na hoffentlich, dachte ich. Wenn schon jemand am Boden liegt, gibt es immer Menschen, die diese Situation ausnützen.

Life Magazin, Manfred Cobyn
© Manfred Cobyn/Life Magazin - Gumpendorferstraße

Substitol

„Substitol“ (retardiertes Morphin) mit dem Wirkstoff Morphinsulfat-Pentahydratistist die Droge der Zeit. Eine kleine Tablette mit enormem Suchtpotential. Vor über 20 Jahren kam man auf die kluge Idee, dieses Medikament zu verschreiben. Erhofft wurde, heroinabhängige Menschen vom “Brown Sugar” wegzulocken und diese zu substituieren.

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Nun ist das irgendwie gelungen – theoretisch halt, doch der Drogenmarkt wurde statt mit Heroin von diesem Teufelszeug überschwemmt. Ein Entzug ist nicht besonders lustig und viele scheitern daran. Diese Tabletten waren und sind sehr leicht zu bekommen. Wer keinen Arzt hat, der das Suchtmittel verschreibt, ist man, wie gesagt, ab 10 € dabei.

 

Ruckzuck geht es ab ins Land des Rausches. Viele schlucken das Medikament nicht, sie sind auf die glorreiche Idee gekommen, diese Droge intravenös zu nehmen. Es geht um den Kick, der erlebt werden möchte.

Life Magazin, Manfred Cobyn
© Manfred Cobyn/Life Magazin

Das Gift Substitol wird in Kapseln verabreicht, die man leicht öffnen kann, das machte sich ein Arschloch zunutze, er holte den Wirkstoff aus dieser Kapsel und füllte sie mit Waschmittel. Das verkaufte er an zwei Mädchen, die sich Persil in die Venen schossen, quasi reingewaschen bei 37 Grad und daran krepierten. In dieser Szene kann man niemanden trauen, es gibt keine Freundschaft, jeder linkt den anderen, es zählt nur das eigene Ich.

Aber nicht nur Opiate sind der Renner, sehr beliebt sind auch “Benzos” (Benzodiazepine). Das sind verschreibungspflichtige Medikamente, die als Schlaf- oder Beruhigungsmittel eingesetzt werden. Sie werden aufgrund ihrer entspannenden Wirkung auch als Tranquilizer (engl. totranquillize= beruhigen) bezeichnet. Ein paar 100 mg davon erzeugen eine Art Glücksgefühl, wenn man die Müdigkeit überwindet. Auch von diesem Zeug wird man sehr schnell, sehr schwer abhängig. Viele Drogenkranke mischen das Zeug mit Opiaten und Alkohol und sind alles nur nicht Herr/Dame ihrer Sinne. Diese “Wiener Melange” hat schon sehr lange Tradition, die Polizei ist machtlos, auch wenn sie Präsenz zeigt. Will man wirklich diese kranken Menschen bestrafen und vor allem wie?

Nächster Stopp: Hölle

Das zweite Mal fuhr ich auf die „Gumpinger“ mit meinem Fotoapparat und Notizblock, um eine Reportage über diese Szene zu machen. Zufällig lernte ich den “Paten” der U-Bahnstation kennen und quatschte mit ihm. Er stellte sich als Franky vor. Fast alle Abhängigen dort gaben ihm höflich die Hand und versorgten ihn mit Wurstsemmeln und Orangensaft und was man sonst noch als “Herrscher” braucht. Die Sitzbänke waren reglementiert und nur Franky bestimmte, wer sitzen durfte. Ich durfte, und zwar einige Stunden lang und tauchte immer mehr in den Wahnsinn ein, der sich da abspielte. Franky hatte ich es zu verdanken, dass sich einige Klienten fotografieren ließen und mit mir über ihre Abhängigkeit sprachen.

Life Magazin, Manfred Cobyn
© Manfred Cobyn/Life Magazin

Winney

Da war Winney, 50 Jahre alt, er wurde vor ein paar Stunden von Russen niedergeschlagen und seine paar Substitol-Tabletten, die er eigentlich verkaufen wollte, wurden ihm geraubt. Er hatte ein paar Platzwunden im Gesicht, doch natürlich zeigte er den Raub nicht bei der Polizei an, wozu auch. Von den Beamtinnen und Beamten war kaum Hilfe zu erwarten, um Winney`s Ware wiederzubeschaffen.

Sein Leben ein typisch verpfuschte, als Kind vergewaltigt, von seinen Eltern in irgendwelche Heime abgeschoben. Die Schulausbildung blieb natürlich auf der Strecke und irgendwann begann er sich selbst zu heilen, um all den Mist zu vergessen. Haschisch und Opiate waren ein probates Mittel, um sich in eine bessere Welt zu träumen. In dieser Welt gibt es kaum körperliche Schmerzen und die geistigen werden praktischerweise auch betäubt.

Life Magazin, Manfred Cobyn
© Manfred Cobyn/Life Magazin

Mein neuer “Freund” Franky ließ mich selbstverständlich nicht gratis neben sich sitzen, als Chef, der er dachte zu sein”, musste auch ich meinen Obolus an ihn entrichten, aber dafür bekam ich meine Geschichten. Eine junge Frau klagte mir ihr Leid. Immer und immer wieder dasselbe Schicksal. Als Kind missbraucht und unfähig, das verdammte Erlebte zu vergessen. Endstation Sehn-Sucht und kaum eine Chance auf ein richtiges Leben. Alle klagten über ähnliche Schicksale. Ein “Onkel” als Vergewaltiger und all die Opfer dieser beschissenen Onkels vergehen sich in Sucht und Leid fast unheilbar. Tja, Pech gehabt in dieser schönen Drogenwelt, der Untergang ist vorbestimmt und die Leidtragenden tummeln sich bei einschlägigen Treffpunkten auf der Suche nach dem nächsten Schuss in die offenbare Glückseligkeit. Dieses geborgte Glück hält nie lange an, Nachschub muss her und das 24/7 und 365 Tage im Jahr. Was für ein erbärmliches Leben für diese armen Menschen.

Die Polizei reagiert auch menschlich, manchmal

Regelmäßig schaut die Polizei vorbei, ein tägliches Katz und Maus Spiel. Ausweise werden kontrolliert und manchmal Taschen. Doch die Polizei kennt ihre Pappenheimer und ich habe selber erlebt, dass die Beamten auch Freunde und Helfer sein können, sie wissen, dass die meisten Opfer des Lebens geworden sind und versuchten zu helfen. Große Fische angelt man nicht auf der Straße, die schwimmen in einem anderen Sumpf.

Life Magazin, Manfred Cobyn
© Manfred Cobyn-Life Magazin

Therapieplätze werden immer weniger, der Staat muss sparenund spartan der falschenStelle. Viele Millionen Steuergelder versumpfen oftunklaren Kanälen. Die Parteien freuen sich, wenn der politische Gegner Steuergeld als Privatvermögen ansieht und man dieses nachweisen kann. Es gibt ein paar Bauernopfer und schon ist alles vergessen, man geht zur Tagesordnung über.

 

Für einen Therapieplatz muss man monatelange warten, es gibt viel zu wenige Kapazitäten und Entzugsanstalten sind sich bewusst, dass die Heilungschancen bei nur 90 % liegen, geben es aber nicht zu. Das Geschäft mit Abhängigkeit boomt und bringt viel Kohle den “Entziehern”, die oft privat ausgelagert sind.

Richie berichtet

Richie ist 57 und hat fast alle stationären Einrichtungen für Suchtkranke in Österreich hinter sich. “Die Therapie beginnt damit, dass man am Tag 1 seine Persönlichkeit beim Eingang abgeben muss. Obwohl Gewalt strengstens verboten ist, herrscht das Gesetz des Stärkeren unter den Klienten. PflegerInnen sehen zu oder weg. Als ich einmal am Anfang meines Entzuges war, ging es mir sehr schlecht, ich war in einem 4-Mann Zimmer untergebracht. Überall wurde publiziert, dass man Rücksicht auf andere Patienten nehmen soll, doch das waren leere Phrasen.

 

Ein polnischer Staatsbürger war bei mir im Zimmer unter gebracht, der vom Gericht verdonnert wurde, Therapiestatt Strafe abzusitzen. Natürlich wählte er Therapie, da er nicht ins Gefängnis wollte. Und gerade dieser Typ begann mich zu terrorisieren. Ihm gefielen die Annehmlichkeiten, die man im Häfen nicht hatte. Ich brauchte dringend Ruhe und Schlaf, doch das gönnte er mir nicht. Jeden Abend um halb achtdrehte er das Radioziemlich laut im Zimmer auf und las bei sehr viel Licht Zeitung. So fand ich keine Ruhe und habe ihn gebeten, die Zeitung und das Radio im leeren Aufenthaltsraum zu genießen. Plötzlich wurde er aggressiv und drohte mir Gewalt an. Wenn mir was nicht gefällt, solle ich gefälligst nach Hause gehen, in diesem Zimmer hatte er das Sagen. Mein Entzug wurde immer schlimmer, ich ging zu einer Pflegerin und wollte in ein anderes Zimmer  haben. Sie zuckte nur mit den Achseln und sagte, dass Zimmertausch hier nicht vorgesehen sei, da dies viel Schreibarbeit mit sich bringen würde.”. Am nächsten brach ich ab, da ich die Zustände nicht aushielt.

 

Nun treibt sich Richie wieder auf der Straße herum, der polnische Drogenhändler hat ihm sein drogenfreies Vorhaben versaut, einfach weil er körperlich stärker war. Ähnliche Geschichten habe ich von vielen anderen gehört, auch, dass einige private Therapieeinrichtungen sehr viel Kohle mit süchtigen Menschen machen. Die “Therapie” sah vor, dass Klienten das hübsche Eigenheim des Besitzers gratisrenovieren mussten.

Life Magazin, Manfred Cobyn
© Manfred Cobyn/Life Magazin - "depperte Jugendsünde"

Simon sagt

“Mein Leben ist zu einem Wahnsinn geworden. Ich habe eine klassische Drogenkarriere hinter mir. Mit 13 hat mich ein Freund auf Gras eingeladen, ich dachte, ich wäre cool, doch auf Morphium wurde ich richtig cool. Die ganze Scheiße, die mich umgab, wurde nichtig und unwichtig. Der Körper wehrte sich zuerst mit Kotzattacken, doch dann blieb ihm nichts anderes übrig und er akzeptierte den Stoff. Der Darm wurde immer träger, doch alle 10 Tage schaffte ich einen harten, unangenehmen Scheißhaufen aus meinem Arsch, Halleluja. Immer mehr beherrschte mich das Gift, zwang mich zu einem Tagesablauf, den ich mir nimmer aussuchen konnte. Am Morgen musste ich Substitol ranschaffen und lungerte am Karlsplatz herum. Die Tablette kostete im Jahr 2004 noch 10 Euro. Da ich arbeitsunfähig war, habe ich Geld von meiner Mutter und meiner damaligen Freundin gestohlen.”

Es blieb nicht bei Opioiden, es kam Alkohol dazu und Simon wohnt angeblich bei Freunden. Viel mehr vermute ich, dass der arme Kerl auf der Straße haust und auf einen Therapieplatz wartet. “Ich will runter von dem Klumpert” gesteht er halbherzig.

Der Fachmann sagt

Life Magazin, Manfred Cobyn
© Manfred Cobyn/Life Magazin Dr. Walter North

Dr. Walter North ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Abhängigkeitserkrankungen. “In Wien haben wir eine gute Opioid-Substitution, dieLeben rettet und Leben verlängert. Nur müssen die Klienten mitmachen. Es gibt viele Ärzte, die retatierteMorphine und Methadon verschreiben und die Patienten müssen diese unter Aufsicht in Apotheken einnehmen.”. Dr. North sieht keine vermehrten Schwarzmarktaktivitäten.

 

“Insgesamtbefanden sich im Jahr 2019 geschätzt etwa 25.730 Personen in drogenspezifischer Behandlung. Den weitaus größten Anteil von ihnen (etwa 21.100 Personen) machen Personen mit Opioidkonsum – meist mit polytoxikomanemKonsummuster – aus.”Schreibtdas Gesundesministerium.

 

Also eh alles im grünen Bereich, möchte man meinen und alle sind froh und glücklich. Bei meinen Recherchen allerdings hab ich keinen frohen und glücklichen Menschen gesehen. Die meisten fühlten sich im Stichgelassen und warteten auf den nächsten Stich. Bei vielen sind die Venen schon verhärtet, ich hab mir das angesehen, ein Schuss war nur noch am Hals möglich.

Sehr erstaunt hat mich die Offenheit der Suchterkrankten und ich bin ihnen dankbar dafür, sie schenkten mir ihr Vertrauen, erzählten und ließen mich fotografieren.

Doch die Droge Alkohol ist noch viel schlimmer

Life Magazin, Manfred Cobyn
© Manfred Cobyn/Life Magazin

Die legale Droge Alkohol ist allerdings die schlimmste und gefährlichste Abhängigkeit. Es gehört zum guten Ton, bei jedem Fest bei jeder Premiere ein paar Gläser Alkohol zu reichen. In jedem Supermarkt und jedem Lokal ist er frei erhältlich. Die Schäden, die dieses Zeug im menschlichen Körper anrichten, sind enorm, höchst enorm. Aber davon will niemand was wissen. 41 Prozent der Österreicher weisen einen geringen bis mittleren Alkoholkonsum auf. Nicht schlecht für die Staatskasse. Also saufen wir für den guten Zweck.

 

“Darauf trinken wir!”

Brandi Carlile - "The Story" - recommended by Manfred Cobyn

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Comments

  • Christian

    Super, dass Du heiße Eisen in deine Artikeln angreifst und auch da reingehst, wo es (gesellschaftlich) weh tut. Sowohl mit den Bildern, als auch mit der Erzählung. Sehr gut treten dabei die unterschiedlichen Verletzungen der beschriebenen Akteure und Akteurinnen hervor. Das war auch immer meine Erfahrung in der Drogentherapie, dass neben der mitunter sehr destruktiven Suchtdynamik und durchaus immer wieder sehr gewaltvollen Drogenszene stets auch die Menschen mit ihren vielfältigen Verletzungen zu sehen sind. Eines sehe ich anders: Die Option Substitutionsbehandlung ist für viele Menschen durchaus einen Segen. Nicht das damit die Sucht an sich gebessert wäre (das ist oftmals noch nicht oder auch dauerhaft gar nicht möglich), aber sie rettet durchaus Menschenleben, reduziert manchmal Verelendung und kompletten Absturz, schädigt den Körper weniger (wenn es ordnungsgemäß eingenommen wird), reduziert Beschaffungskriminalität, usf. Klarerweise wird auch die Substitutionsbehandlung, wie alles auf der Welt von Menschen auch missbräuchlich verwendet und von einigen auch damit Geld gemacht. Das gehört natürlich kontrolliert, wird aber bei keiner Sache der Welt je ganz zu verhindern sein. Dieses alles für den persönlichen Vorteil auszunützen, was geht, scheint mir ein generelles Menschenproblem. Das Gesundheitswesen in Österreich wurde leider wie so vieles privatisiert. Das finde ich aus vielerlei Hinsicht äußerst bedenklich. Generell allen Therapieeinrichtungen zu unterstellen, dass Sie auf Gewinnmaximierung aus sind, finde ich schade. Ich kenne viele extrem engagierte Kolleg*innen, die sich für ihre Leute total ins Zeug hauen - unter sehr schlechten Arbeitsbedingungen. Mein Eindruck war, dass immer viel zu wenig Geld da war, um anzubieten, was es eigentlich alles brauchen würde. Das auch da irgendjemand vielleicht Geld in seine eigene Tasche steckt, mag sein. Da gilt dasselbe wie bei der missbräuchlichen Verwendung von Substitution: Manche Menschen brauchen offenbar Kontrolle.

  • FranzKaa

    früher waren die am karlsplatz heute nicht nur bei der gumpendorferstra$e. versteh nicht warum die polizei nichts macht die schreiben nur falschparka auf und machn sich wichtig wen man ka maske aufhat. jedea selba schuld für sei leben, gibt genug einrichtungen. i hab ka mitleuid!!

  • Miriam

    Herr Cobyn ich bin schon lange Fan von Ihnen. Sie schreiben die Wirklichkeiten pointiert und sachlich auf. Immer sind Sie hautnahe am Geschehen und haben den Blick auf das wesentliche. Das macht Ihnen so schnell niemand nach. Die Welt ist grausam, doch ich sehe bei Ihnen nie einen erhobenen Zeigefinger!

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