„Die Überflüssigen“ in "dasTAG" suchen Antworten, stellen aber eigentlich gar nicht so viele Fragen
Man kann an den Russen verzweifeln, auch ohne sich auf die aktuelle Lage zu beziehen, wo man sich eher wegen eines bestimmten Russen die Haare rauft. Russische Theaterstücke á la Tschechow sind selbstverständliche Klassiker, aber die Beobachtung der sich langweilenden Oberschicht, die auf ihren Landgütern irgendwo in der Taiga das Leben vorbeiziehen lässt und nicht aufhört zu lamentieren, lässt der gelernte Theaterbesucher so nach und nach ganz gerne hinter sich.
Die 1981 geborene Autorin Sina Heiss hat noch nicht aufgegeben und greift auf einen Stoff des russischen Literaten zurück. „Iwanow“ heißt die Vorlage, die sie als literarische Vorlage verwendet, ins Heute zerrt und auch gleich die Regie des neuen Stückes übernimmt.
Die Zeit ist ein seltsames Ding
„Wir tun alles, um Zeit zu sparen, und sobald wir sie gespart haben, schlagen wir sie tot, weil wir nicht wissen, was wir mit ihr anfangen sollen.“ Das ist einer der besten Sätze, die an diesem Abend auf der Bühne des “dasTAG” fallen.
Auf einem mit langen, dünnen Perlenvorhängen dekoriertem Setting tummelt sich eine Gesellschaft, direkt der Tschechow-Welt entsprungen, aber ausgestattet mit Worten, Gedanken und Gesten von Menschen in Zeiten von Corona. Erster Lockdown, ein Penthouse, genau hier startet zeitlich das Stück – im Frühjahr 2020.
Die Protagonisten: ein orientierungsloser und von sich selbst gelangweilter Start-Upper in den 40er Jahren, seine todkranke Gattin, die sich verzweifelt an den faden Ehemann klammert, deren Privatarzt, der sich in die Patientin kopflos verliebt hat, dessen Stiefschwester, die sich den Ehemann schnappt sowie dessen Geschäftspartner und Freund, älter, erfahrener, zynisch, stets bereit sich in Abenteuer zu stürzten, um grandios und heftig zu scheitern. Wären alle diese Rollenbilder nicht bereits sehr ähnlich bei Tschechow festgelegt, man könnte sie auch im Drehbuch der „Vorstadtweiber“ finden.
Worthülsen suchen
So blubbert der Abend dahin: Sorgen um das Unternehmen, Antriebslosigkeit bedingt durch die Pandemie (die mit keinem Wort benannt wird), Hilflosigkeit gegenüber dem Tod. Der Zuschauer langweilt sich ein wenig wegen der Vorhersehbarkeit der Handlung, es gibt viele Worthülsen, noch mehr Plattitüden und wenig verständliche Tanzszenen, die immer dann auftauchen, wenn die Worte ganz fehlen und die Handlung völlig ins Stocken gerät.
Die Protagonisten langweilen sich, weil sie das darstellen müssen. Sie fühlen sich überflüssig. Doch das machen sie sehr gut. Jens Claßen ist ein lässiger, überbesorgter und etwas bevormundender Privatarzt, dem man aber abnimmt, dass er in die fragile Anna (gekonnt: Michaela Kaspar) verliebt ist. Raphael Nicholas scheint fast unerträglich in Mutlosigkeit gefangen. Alina Schaller ist eine wunderbar freche Jugendliche und besonders gut gelingt Georg Schubert die Rolle des älteren weißen Mannes, der langsam aber sicher aus der Zeit fällt.
Den stärksten Moment hat das gesamte Stück in den letzten zehn Minuten: Gleich einem griechischen Chor deklamieren die Darsteller ihre Gedanken gegen Konsumzwang, Ängste, die Überflüssigkeit und das Leben an sich. Mutlos verlässt der Zuschauer das Theater nicht, vielleicht ein wenig irritiert ob des Gedankens, dass vielleicht der Besuch eines Original-Tschechow-Stückes auch mal wieder keine schlechte Idee wäre.